Wenn die Nacht am tiefsten – ein Scherben Festival 

Anlässlich 50 Jahre Ton Steine Scherben – 70 Jahre Rio Reiser

Ton Steine Scherben feiern Geburtstag. Aus bekannten Gründen ein bisschen verspätet, ein bisschen anders als gedacht, aber es wird gefeiert. Und da es nicht irgendein Geburtstag ist, sondern der 50. und die Scherben auch nicht irgendeine Band sind, sondern viele verschiedene Facetten haben, muss zu diesem großen Jubiläum ein Festival her. Eines, das versucht, all das, was Ton Steine Scherben waren und sind, zusammenzubringen und eine Brücke zu schlagen, zwischen dem was war, dem was ist und dem was sein könnte. Im Juni 2021 – natürlich mit Musik, natürlich mit Gästen und natürlich in Berlin, wo alles begann: 1970, als Ton Steine Scherben aus zwei Straßentheatergruppen in Kreuzberg entstanden, ehe sie dann ihr erstes Konzert beim Love-and-Peace-Festival auf Fehmarn spielten, wo Jimi Hendrix ausgerechnet sein letztes Konzert gab und schließlich die Bühne in Flammen aufging. Die Straßentheater reagierten auf aktuelles Geschehen und setzten sich direkt mit den Zuschauern auseinander, mit dem, was sie bewegt, mit ihren Träumen und Sehnsüchten nach einem Leben ohne Autoritäten.

Diesen Ansatz übernahmen Ton Steine Scherben in ihre Musik und lieferten so den Soundtrack der Post-68er und vor allem der Hausbesetzerbewegung. Sie ließen sich von den Rolling Stones und Beatles inspirieren, gaben einen Schuss Kinks und Cream dazu und schließlich die deutsche Sprache, direkt und ungeschminkt von der Straße – damit Lehrlinge, Arbeiter und überhaupt alle die Botschaft verstehen. Denn dass sie eine Botschaft hatten war, was sie von vielen Bands unterschied. Und anders als die Punkbands später mit ihrem »No Future« sahen sie sehr wohl eine Zukunft: eine bessere, die man gemeinsam bauen könnte. 1975 waren sie überzeugt: Wenn die Nacht am tiefsten ist, ist der Tag am nächsten. Gerade dieser unbedingte Glaube, die Hoffnung ist es, die die Songs der Scherben so zeitlos und manchmal gar aktueller denn je wirken lässt. Nicht von ungefähr gehören Scherben-Songs bis heute zum festen Bestandteil von Demonstrationen, nicht nur gegen Immobilienhaie, auch auf dem bundesweiten Klimastreik im September 2019 oder auf der #Unteilbar-Demo im Herbst 2018.

Als sich die Band 1985 auflöste und Frontmann Rio Reiser sich in seine Solokarriere stürzte, glaubte wahrscheinlich keiner von ihnen daran, dass sie 29 Jahre später wieder auf Tour gehen würden. Wenn auch ohne Rio, der jetzt seinen 70. Geburtstag gefeiert hätte, wäre er nicht schon 1996 viel zu früh gestorben. Auch wenn er es war, der die meisten Texte schrieb und der Band mit seiner Stimme und seiner unglaublichen Bühnenpräsenz Unverwechselbarkeit verlieh, ging es nie nur um ihn; ohne Gitarrist RPS Lanrue, der gut die Hälfte der Songs vertont hat, wäre Rio wie Jagger ohne Richards gewesen. Der unsichtbare Dritte, Bassist Kai Sichtermann, bildete zusammen mit den später Hinzugekommenen – Drummer Funky K. Götzner, Martin Paul an den Keyboards oder Gitarrist Marius del Mestre – den Inner Circle der »tragenden« Musiker und um diesen scharten sich die Community-Mitglieder – wie Nikel Pallat, Jörg Schlotterer, Misha Schoeneberg oder Angie Olbrich, Britta Neander und Elfie-Esther, die zusammen die Band Carambolage gründeten – jeder war wichtig, denn es war immer die Gemeinschaft, die den Traum der Scherben ausmachte: Gemeinsam floh die Kommune vor dem politischen Druck der Berliner Szene aufs Land, entschied sich immer bewusst gegen die Vermarktung durch kommerzielle Plattenfirmen und gründete den ersten deutschen Independent Vertrieb. Als ihre Musik experimenteller und die Texte teilweise surrealistischer wurden, wurden sie von einem Teil der Fans als Verräter beschimpft. Doch mit all dem schufen die Scherben ein Gesamtwerk mit einem Zauber, der bis heute wirkt.

Um all das einzufangen, haben sich Ton Steine Scherben mit der Berliner Geschichtswerkstatt, der Browse Gallery und dem Musik-Club SO36 und einigen anderen Akteuren zusammengetan und laden vom 4. bis 13. Juni 2021 alte und junge Scherben-Fans, Wegbegleiter und neue Neugierige ein zu Wenn die Nacht am tiefsten – ein Scherben Festival.

Alle Festivalaktivitäten stehen unter dem Vorbehalt von Änderungen, die wir pandemiebedingt und je nach den aktuell geltenden Infektionsschutzregelungen umsetzen müssen.